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Wer es wagt, die ewigen Klassiker der Videospielgeschichte anzutasten, um ihnen eine ebenso ersehnte wie befürchtete Fortsetzung zu verpassen, muss sich am Original messen lassen, selbst wenn es aus einer ganz anderen Games-Ära kommt: Kann die Fortsetzung dieses Gefühl von damals aufgreifen? Hat sie das gewisse Etwas, was auch immer das war, das die alten Spiele so einzigartig machte? Neben dieser schwer zu beantwortenden Frage nach der Essenz eines Spiels geht es außerdem darum, wie viel Politur ein Werk verträgt, das früher längst nicht nur glanzvoll war.
Das diese Woche im Early Access erschienene "Baldur's Gate III" bewegt sich genau auf diesem dünnen Eis kollektiver Erwartungshaltung. Eine ganze Generation von Spielerinnen und Spielern, die mit "Baldur's Gate I" im Jahr 1998 und seinem schon zwei Jahre später veröffentlichten Nachfolger "Baldur´s Gate II: Schatten von Amn" aufgewachsen ist, stellt jetzt die Frage nach der (un)würdigen Nachfolge des dritten Teils - zwanzig Jahre später. Ganz schön viel Druck, der auf dem belgischen Entwickler Larian Studios lastet.
Larian ist durch die "Divinity"-Reihe bekannt, die es damals auch schon gab – 2002 erschien das erste Spiel "Divine Divinity", hatte aber bereits damals einen ganz anderen Charakter als "Baldur's Gate": Überzeichnete Charaktere, eine bunte Optik mit einer Prise Selbstironie und absurd-komische intertextuelle Kalauer mit popkulturellem Bezug. Die "Baldur's Gate"-Reihe ist dagegen wie der ernste, erwachsene Bruder. Gut-Böse-Geschichten von epischer Breite und mit tragischer Fallhöhe. Mit Göttern und Menschen, Auserwählten, Tugenden und Sünden wie Ehre, Tapferkeit, Rache und allem sonst, was nach verstaubter Ritterlichkeit klingt. Bis auf einige humorvolle Ausrutscher wie den Barbaren Minsk und seinen Hamster-Gefährten Boo meint die "Baldur's Gate"-Reihe es ziemlich ernst mit der epischen Fantasy. Viel Platz für Humor bleibt beim Weltenretten eben nicht.
Ein (un)würdiger Nachfolger?
Und jetzt will sich gerade das Studio, das von Anfang an einen anderen Weg gegangen ist, an die langersehnte Fortsetzung wagen? Klar ist da eine Menge Skepsis im und am Spiel. Zumal Larian Studios in den letzten Jahren mit "Divinity: Original Sin" und "Divinity: Original Sin 2" kommerziell äußerst erfolgreich war und seinen Ruf als Erschaffer farbenfroher Welten, überzeichneter Figuren und allgemeiner Fantasy-Leichtigkeit gefestigt hat.
Tatsächlich erinnert die Optik in "Baldur's Gate III" an die "Divinity"-Reihe. Zunächst finden sich Spielerinnen und Spieler auf einem Flugschiff der Gedankenschinder wieder. Bösartige Wesen, die Larven in die Hirne ihrer Wirte einpflanzen und diese verwandeln. Kurz darauf gerät das Schiff in einen Kampf mit Höllenwesen und stürzt ab. Allerlei Grausamkeit und Infernalisches also gleich zu Beginn. So weit, so Baldur´s Gate. Nach dem Schiffbruch des Helden irgendwo an der Küste des fiktiven Kontinents Faerûns geht das Abenteuer los – und die Suche nach einem Weg, die Larve aus dem Hirn zu holen, bevor sich der Held in einen willenlosen Gedankenschinder verwandelt. Und das mithilfe von Gefährten, die ein ähnliches Schicksal teilen.
Bis auf das Herzklopfen bei der Erwähnung altbekannter Orte (Faerûn, tatsächlich zurück in Faerûn, nach all dieser Zeit!) hält sich jeder nostalgische Wiedererkennungswert zumindest zu Anfang in Grenzen. Die Landschaft ist zwar nicht so regenbogenbunt wie die in "Divinity", aber dichter und unübersichtlicher als damals. Was auch am Verzicht auf die für die alte Reihe typische isometrische Perspektive liegt. Die Kämpfe sind rundenbasiert und nicht dynamisch, es gibt keine Pausenfunktion. Taktik-Enthusiasten mag das nicht aufstoßen, der Spieldynamik und -Geschwindigkeit kommt es aber nicht zugute. Schnell stehen sich ein Dutzend oder mehr Gegner gegenüber. Bis jeder an die Reihe gekommen ist und seine Aktion beendet hat, kann ein durchschnittlicher Kampf mit mehreren Runden zwanzig Minuten oder mehr dauern.
Rund zwanzig Stunden lang kann das Spiel im Early Access gespielt werden. Es endet aber, noch bevor der Held die titelgebende Stadt betritt. Um es deutlich zu sagen: "Baldur's Gate III" macht Spaß. Es ist schon jetzt ein dichtes Spiel, das mit viel Tempo beginnt und Spieler mitten hineinwirft in Abenteuer, ins Auskundschaften und Ausprobieren. Der Zauber der alten Tage, dieses Gefühl, unbekannte Horizonte und fremde Welten auf den paar Zoll des flimmernden Bildschirms vor sich zu entdecken, lässt aber noch auf sich warten.
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Rollenspiel-Klassiker: So sah "Baldur's Gate" aus
Vielleicht sind zwanzig Jahre auch zu lang. Vielleicht ist es so, dass nach einer bestimmten Zeit die Erwartungshaltung so groß ist, dass es kein Zurück nach Faerûn mehr gibt. Aber das muss nicht schlecht sein. Vielleicht entsteht hier ein Spiel, das für sich stehen kann und darf. Ein Neuanfang.
Außerdem findet man dieses eigentümliche Gefühl an anderer Stelle wieder. In den vergangenen Jahren sind eine Reihe von herausragenden Spielen erschienen, die auf die eine oder andere Weise an "Baldur's Gate" erinnern: BioWares "Dragon-Age"-Serie etwa, oder "Tyranny", "Pillars of Eternity" und "Pillars of Eternity 2: Deadfire", entwickelt von Obsidian Entertainment und damit ehemaligen Mitarbeitern des Black Isle Studios, das maßgeblich an "Baldur's Gate" und dessen Fortsetzung beteiligt war.
Die Frage ist also: Ist "Baldur's Gate III" mehr "Baldur's Gate" als alle diese anderen guten Beispiele? Sicher, es spielt in Faerûn und knüpft an die Geschichte von "Baldur's Gate" an. Aber letztlich ging und geht es um das Gefühl von grenzenlosem Abenteuer innerhalb der Grenzen eines Bildschirms. Vielleicht braucht es also gar kein Faerûn. Dann könnte man sich auch von der Erwartungshaltung lösen, von der Angst, nach zwanzig Jahren Wartezeit enttäuscht zu werden.